6700 KMU: Ein aktueller Blick auf den Privatsektor in Kuba

Anderthalb Jahre nach Inkrafttreten der Gesetze über kleine und mittlere Unternehmen (KMU) zählt die Insel inzwischen mehr als 6700 neue Wirtschaftsakteure. Forscher des kubanischen Instituts für Anthropologie haben nun zusammen mit dem Wirtschaftsministerium einen detaillierten Einblick über die aktuelle Zusammensetzung des Privatsektors in Form einer Broschüre erarbeitet. Wo haben sich bis dato die meisten KMU gegründet, wie groß sind die Betriebe und in welchen Branchen sind sie tätig? „Cuba heute“ schlüsselt auf.

Dieser Artikel erschien zuerst auf cubaheute.de – jetzt lesen!

Anzahl der KMU nach Provinzen bis zum 31. Januar 2023
Anzahl der KMU nach Provinzen bis zum 31. Januar 2023 (Quelle: ICAN)

Geringer Anteil an der Gesamtbeschäftigung

KMU (auf Kuba: „Micro, pequeñas y medianas empresas“, MIPYMES genannt) können bis zu 100 Personen beschäftigen und erhalten die Rechtsform einer „Sociedad de responsabilidad limitada“ (SRL), die in etwa einer deutschen GmbH entspricht. Damit sind neben einem deutlich attraktivieren Steuersystem und Haftung über das Firmeneigentum auch neue Möglichkeiten für Kooperationen mit dem Staatssektor und ausländischen Investoren verbunden. Zudem sind seit Inkrafttreten der neuen Gesetze vom September 2021 Gründungen in sämtlichen Branchen mit Ausnahme einer 112 Punkte umfassenden Negativliste möglich. Die Negativliste (PDF) umfasst vor allem traditionell staatliche Tätigkeitsfelder wie Militär, Gesundheitswesen, Wasser- und Energiewirtschaft, aber auch Bergbau, Medien, Zuckerindustrie und Großhandel.

Die weitere Öffnung des Privatsektors ist Teil der 2020 eingeführten „neuen Wirtschafsstrategie“ des Landes, mit der Importe durch lokale Produktion ersetzt und die Wirtschaft durch diverse Eigentumsformen und bessere Integration effizienter gemacht werden soll.

Zum Redaktionsschluss der Broschüre, dem 31. Januar, wurden auf Kuba insgesamt 6704 neue Wirtschaftsakteure gezählt. Sie beschäftigten 179.317 Personen, was 3,8 Prozent aller Berufstätigen auf der Insel entspricht. Zu den neuen Wirtschaftsakteuren zählen neben staatlichen und privaten KMU auch Selbstständige, Kooperativen und Lokalentwicklungsprojekte. Agrargenossenschaften werden nicht mitgezählt, weshalb der Anteil des nicht-staatlichen Sektors an der Gesamtbeschäftigung eher niedrig erscheint. Inkludiert man Landwirtschaftskooperativen, so sind etwa 1/3 der Erwerbstätigen nicht beim Staat beschäftigt. Vor der Pandemie zählte der Privatsektor (ohne Landwirtschaft) 600.000 Beschäftigte, was 2019 rund 13 Prozent der Beschäftigten entsprach.

62 Prozent der neuen Akteure sind im Westteil der Insel angesiedelt. Am stärksten vertreten ist die Hauptstadt Havanna (40 Prozent), gefolgt von der östlichen Provinz Granma mit 9,2 Prozent. Warum sich gerade in dieser südöstlichen Region mit 619 neuen Betrieben eine besonders hohe Dichte an KMU und Kooperativen herausgebildet hat, ist den Forschenden ein Rätsel. Die Provinz ist in Bezug auf ihre Wirtschaftskraft eher unterdurchschnittlich aufgestellt.

97 Prozent der neuen Akteure sind Privatunternehmen, bei 79 es sich um staatliche KMU, 61 sind Kooperativen. 34 Prozent sind im Bereich Nahrungsmittelherstellung- und Vermarktung angesiedelt, wozu auch die Gastronomie zählt. Beschränkt man die Auswahl auf reine Lebensmittelproduzenten, arbeiten 15 Prozent in diesem Bereich. In letztere Kategorie fallen z.B. Bäckereien, Konservenhersteller und Molkereien. 21 Prozent sind in anderen produktiven Gewerben tätig, allen voran das Baugewerbe und die Leichtindustrie. Hierzu gehören häufig Baufirmen verschiedener Größen sowie Möbel- und Textilproduzenten. Die relative Mehrheit von 45 Prozent bieten Dienstleistungen an, deren Bandbreite vom Betrieb von Schönheitssalons über diverse Transport- und Reparaturdienste und Handel bis zur Programmierung komplexer Software reicht.

Ein Blick in die Statistik

Genau die Hälfte (50,5 Prozent) der KMU sind Kleinbetriebe mit 11 bis 35 Angestellten. Bei 27,5 Prozent handelt es sich um mittlere Betriebe mit 36 bis 100 Beschäftigten. 22,1 Prozent sind Kleinstbetriebe, deren Belegschaft die Zahl von 10 Personen nicht übersteigt. Die Tabelle zeigt, wie sich KMU und Kooperativen auf die verschiedenen Regionen verteilen:

KMU-Typ:MikroKleinMittelKooperativenPDL
Westkuba7961900110033399
Zentralkuba2305882755405
Ostkuba45589446623276
Gesamt148133821841*61 (474)1080

Darüber hinaus gibt es auf Kuba inzwischen 1080 sogenannte Lokalentwicklungsprojekte („Proyectos de desarollo local“, kurz: PDL). Mit ihnen sollen neue, geschlossene Wirtschaftskreisläufe mit sozialer Zielstellung auf lokaler Ebene geschaffen werden. Importe sollen durch lokale Produkte ersetzt werden, Einnahmen und Startkapital stammen unter anderem aus einer zweiprozentigen Lokalentwicklungssteuer, die seit einigen Jahren auf Ebene der Provinzen erhoben wird. Die meisten (276) werden in der Hauptstadt Havanna gezählt, gefolgt von der Provinz Villa Clara (202) und Las Tunas (103). 44 Prozent widmen sich primär der Lebensmittelproduktion, 31,3 Prozent sind im Dienstleistungsbereich angesiedelt. Bekannte Beispiele sind das staatliche KMU „La Quinta“ auf dem Gelände des botanischen Gartens von Havanna, das unter anderem die Inklusion von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung in das Erwerbsleben fördert sowie der Fahrradverleih „Ha’Bici“. Letzterer verfügt über einen Fuhrpark von 600 Rädern verteilt über mehrere Stationen, mit denen insbesondere für die Außenbezirke von Havanna eine preiswerte Transportalternative angeboten werden soll.

Schaut man sich die zeitliche Entwicklung bei der Genehmigung der neuen Akteure an, zeigt sich vor allem im Laufe des Jahres 2022 eine relativ dynamische Entwicklung: Beim ersten „Update“ auf Cubaheute vom 5. Oktober 2021, kurz nach Inkrafttreten der neuen Gesetze, gab es gerade einmal 35 KMU. Zum 27. Januar 2022 ist ihre Anzahl auf 1707 angewachsen. Bis zum 20. April waren es 3074, am 23. November wurden 5985 KMU gezählt. Ähnlich bei den Lokalentwicklungsprojekten, deren Anzahl sich von 423 während der landesweit ersten Lokalentwicklungsmesse im März 2022 auf inzwischen 1080 mehr als verdoppelt hat.

Selbstständige mit mehr als drei Angestellten hatten bis zum 20. September Zeit, in die neue Rechtsform überzugehen. Spekulationen über einen temporären Stopp der Lizenzausgabe haben sich bislang nicht bestätigt. Zuletzt wurden am 16. Februar 99 private und ein staatliches KMU genehmigt, womit die Gesamtzahl auf 6804 gestiegen ist. In der letzten Runde waren unter anderem Elektrowerkstätten, Bauunternehmen, Gastronomiebetriebe, Bäckereien und Transportdienstleister vertreten.

Öffentlich-private Partnerschaften als Modell?

Ein nach wie vor bestehendes Problem sämtlicher neuer Eigentumsformen ist die Integration in die übrige sozialistische Ökonomie, die größtenteils aus zentral geplanten Staatsunternehmen und haushaltsfinanzierten Institutionen besteht. In Bezug auf den Export sehen die Forscher noch „üppige ungenutzte Reserven bei den neuen Akteuren“: nur 58 Betriebe sind regelmäßige Exporteure. Fehlende Finanzierung, Währungsdistortionen (Zugang zu Devisen und deren unterschiedliche Wechselkurse) sowie unzureichende Verkettung mit anderen Akteuren sind weiterhin die größten Hemmnisse.

Ein jüngstes Positivbeispiel ist die wiedereröffnete Eisdiele „Komplex Zapata und 12“ an der gleichnamigen Straßenecke in Havannas Stadtteil Vedado. Wie die Lokalzeitung „Tribuna“ berichtet, fungiert die ehemalige staatliche Einrichtung inzwischen als Pilotprojekt für eine öffentlich-private Partnerschaft: „Der Staat stellt die Einrichtung, die Arbeitskräfte und die technische Infrastruktur zur Verfügung, während das Privatunternehmen alle importierten Rohstoffe liefert und am Herstellungsprozess beteiligt ist“, so der Bericht. Bei der Eröffnung waren sowohl das Provinzkomitee der Kommunistischen Partei als auch Havannas Gouverneur Reinaldo García vor Ort.

Offenbar finden derzeit in einigen Geschäften Havannas ähnliche Transformationen statt. Viele seit der Pandemie geschlossene Staatslokale erwachen gerade unter neuem Managementmodell aus ihrem zweijährigen Dornröschenschlaf. So hat im Handelszentrum von Miramar mit „Grocery“ zum ersten Mal eine Art privater Supermarkt in einer staatlichen Immobilie eröffnet, mit hohen Preisen und Angeboten, die sich sonst nur in Devisengeschäften und auf dem Schwarzmarkt finden. Ein Liter französische Milch ist dort beispielsweise für 500 Pesos, ca. 4,2 Euro erhältlich. Damit wird ein weiterer legaler Rahmen zur Nutzung der Importmöglichkeiten von KMU für den Peso-Kreislauf geschaffen.

Im Fall von „Zapata y 12“ soll durch die staatlich-private Partnerschaft ein sozialverträglicheres Preisniveau sichergestellt werden, da mit dem dort etablierten Modell lokaler Wertschöpfung eine Kostensenkung verbunden ist. Die Kugel Eis kostet dort 35 Pesos (ca. 30 Cent), ein Hamburger 150 Pesos (ca. 1,2 Euro) – weniger als in vergleichbaren, rein privaten Einrichtungen.

Es bleibt interessant zu beobachten, ob und wann die Modelle auch in anderen Branchen und Provinzen Schule machen werden. Die Experimentierbereitschaft für die Integration der neuen Akteure in die Wirtschaft scheint auf Kuba jedenfalls langsam erwacht zu sein. Das muss sie auch, schließlich will das Parlament bis Dezember dieses Jahres ein neues Unternehmensgesetz („Ley de empresas“) beschließen, wie Wirtschaftsminister Alejandro Gil ankündigte. Darin soll die Funktionsweise der Staatsunternehmen aber auch der verschiedenen Akteure untereinander neu abgesteckt werden, wobei die jüngsten Erfahrungen genug Stoff für die anstehende Debatte liefern dürften. Der erste Entwurf des Gesetzes soll in den kommenden Monaten vorgelegt werden.

Weitere Infos: